Polit-Märchen 1:

"Deutschland ist das reichste Land Europas"

Diese Behauptung geistert immer wieder durch die Medien. Besonders dann, wenn Journalisten im Wahlvolk die Bereitschaft für Umverteilungsprojekte wecken wollen, die natürlich vorwiegend zu Lasten Deutschlands, dem ohnehin schon größten Nettozahler der EU, veranstaltet werden. Manche Medienvertreter versteigen sich gelegentlich gar zur Behauptung, Deutschland sei das reichste Land der Welt. Ohne Zweifel ist Deutschland im weltweiten Vergleich ein wohlhabendes Land, doch wie stellt sich die Lage in Bezug auf unsere europäischen Nachbarn dar?

Bruttoinlandsprodukt

Mit gut 2,8 Billionen Euro hat Deutschland im Jahr 2016 in der Tat das größte reale Bruttoinlandsprodukt in Europa: BIP in Europa

Quellen: Eurostat (BIP pro Kopf, Einwohner)

Allerdings leben in Deutschland auch die meisten Einwohner, daher ist das BIP nicht die geeignete Kenngröße zur Ermittlung des Wohlstands. Bezogen auf das reale BIP pro Kopf steht Deutschland mit 34.600 Euro nämlich zusammen mit Finnland nur noch an siebter Stelle – weit abgeschlagen hinter dem Spitzenreiter der EU, das ist Luxemburg mit einem mehr als doppelt so hohen BIP pro Kopf von 81.700 Euro: BIP pro Kopf

Quelle: Eurostat (BIP pro Kopf)

Auch beim Vergleich mit Nicht-EU-Ländern schneidet Deutschland keineswegs herausragend ab, wie Statistiken des Internationalen Währungsfonds zeigen. Daß der Ölstaat Katar mit einem nominalen BIP pro Kopf von 127.100 Dollar den Spitzenplatz einnimmt, verwundert nicht. Aber auch mit Deutschland vergleichbare industrialisierte Staaten wie die Schweiz, die USA oder Australien stehen beim BIP pro Kopf deutlich besser da: BIP pro Kopf ausgwählte Länder



Der Vollständigkeit halber hier noch der Vergleich des nominalen BIP von Nicht-EU-Ländern mit Deutschland:

BIP ausgewählte Länder

Haushaltsvermögen

Aber auch das BIP pro Kopf sagt nichts darüber aus, über wie viel Vermögen die einzelnen Privathaushalte tatsächlich verfügen. Im April 2013 hat die Europäische Zentralbank eine Studie veröffentlicht, die das untersucht. Deutschland liegt mit einem Medianwert von 51.400 Euro an der letzten (!) Stelle der untersuchten Länder. Die Haushalte sämtlicher früherer Euro-"Rettungskandidaten" besitzen sehr viel mehr Vermögen:

  • Portugal:           75.200 Euro
  • Griechenland:  101.900 Euro
  • Spanien:          182.700 Euro
  • Zypern:           266.900 Euro
Nettovermögen der Haushalte
Auch wenn man berücksichtigt, daß in Deutschland weniger Personen pro Haushalt leben als in manchen anderen Ländern und man das Vermögen pro Person betrachtet, verändert sich das Bild kaum: Deutschland tauscht dann mit der Slowakei den Platz und liegt an vorletzter Stelle.
Hinweis: Im Vergleich zum Durchschnitt ist der Median robuster gegenüber Ausreißern in eine Richtung. In Deutschland ist der Durchschnitt z. B. fast vier Mal so groß wie der Median. Das bedeutet, daß es einige wenige sehr reiche Haushalte in Deutschland gibt, die den Durchschnitt nach oben drücken. Aber selbst beim Durschschnittsvermögen pro Person kommt Deutschland erst an neunter Stelle der untersuchten Länder, und auch erst weit hinter dem gerade "geretteten" Zypern, das auch dann nach Luxemburg an zweiter Stelle der Vermögensskala steht!

Netto-
vermögen pro Haushalt
(Median)
Netto-
vermögen pro Haushalt
(Durchschnitt)
Anzahl Personen pro Hauhalt Netto-
vermögen pro Person
(Median)*
Netto-
vermögen pro Person
(Durchschnitt)*
Euroraum
109.200 230.800 2,32 47.100 99.500
Belgien
206.200 338.600 2,31 89.300 146.600
Deutschland
51.400 195.200 2,04 25.200 95.700
Finnland
85.800 161.500 2,08 41.300 77.600
Frankreich
115.800 233.400 2,24 51.700 104.200
Griechenland
101.900 147.800 2,64 38.600 56.000
Italien
173.500 275.200 2,53 68.600 108.800
Luxemburg
397.800 710.100 2,48 160.400 286.300
Malta
215.900 366.000 2,85 75.800 128.400
Niederlande
103.600 170.200 2,22 46.700 76.700
Österreich
76.400 265.000 2,13 35.900 124.400
Portugal
75.200 152.900 2,71 27.700 56.400
Slowakei
61.200 79.700 2,57 21.600 28.200
Slowenien
100.700 148.700 2,83 39.200 57.900
Spanien
182.700 291.400 2,68 68.200 108.700
Zypern
266.900 670.900 2,76 96.700 243.100

Quellen:
  • Europäische Zentralbank, Statistical Paper Series No 2/April 2013: "The Eurosystem Household Finance and Consumption Survey - Results from the First Wave", S. 12 und S. 75
  •  *: Eigene Berechnung aus den ersten drei Spalten

Rentenansprüche

Die oben zitierte Studie der EZB ist in die Kritik geraten, weil Rentenansprüche darin nicht berücksichtigt seien. Gut, berücksichtigen wir sie. Die OECD hat das Thema nämlich in einer Studie aus 2015 umfassend untersucht. Läßt man die durchschnittliche Lebensarbeitszeit, Lebenserwartung, Steuern und Abgaben in die Berechnung einfließen und ermittelt so die Netto-Zahlungen aus der gesetzlichen Rente für einen durchschnittlichen Rentner, landet Deutschland - Überraschung! - auf dem drittletzten Platz der OECD-EU-Länder. Während sich Niederländer im Ruhestand mit 95,7 % über ein fast ebenso hohes Einkommen freuen können wie während ihres Erwerbslebens, muß sich ein Deutscher mit der Hälfte davon begnügen. Auch unsere rettungsbedürftigen Freunde aus Portugal, Spanien, Italien und Griechenland liegen größtenteils erheblich über dem Durchschnitt der EU-Rentner, die sich mit 70,9 % ebenfalls sehr viel besser stellen als die deutschen:

Netto-Rentenzahlungen im Vergleich
Quelle: OECD, "Pensions at a Glance 2015", S. 147

Fazit

Daß Deutschland das reichste Land Europas sei, läßt sich durch Zahlen nicht belegen. Für den ganz normalen deutschen Arbeitnehmer und Rentner trifft das schon gar nicht zu. Wie kommt es, daß trotzdem ausgerechnet Deutschland mit Abermilliarden für die Rettung viel wohlhabenderer und gleichzeitig verschwendungssüchtiger Euroländer in die Pflicht genommen wird, ohne daß sich unsere Kanzlerin auf dem EU-Parkett im mindesten dagegen wehrt?